Vier Rotk?ppchen touren durch die B?ckinger Stra?e im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen-Rot. Das Ziel: Sie sollen die Aktivit?t unter den Nachbarn f?rdern. Willkommen bei einem Experiment im Labor B?ckinger Stra?e!

Wie k?nnen B¨¹rgerinnen und B¨¹rger in einem Stadtteil zum gemeinsamen Handeln aktiviert werden? Wie kann man die soziale Interaktion f?rdern? Ein Team aus ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den unterschiedlicher Studieng?nge f¨¹hren zu diesen Fragen w?hrend der IBA Summer School 2019 und w?hrend des Wintersemesters 2019/20 an der Hochschule f¨¹r Technik Stuttgart (HFT) ein Experiment durch. Sie entwerfen vier kleine Kioske und nennen sie Rotk?ppchen ¨C ein Verweis auf den Stadtteil Zuffenhausen-Rot. Ihr Labor ist die B?ckinger Stra?e. Das Gemeinschaftsprojekt wird von den Planerinnen Carolin Lahode und Sarah Ann Sutter und der Wirtschaftspsychologin Sarah Lang geleitet, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im Transferprojekt M4_LAB der HFT, welches das Projekt gef?rdert hat.

Das Labor B?ckinger Stra?e

?Die B?ckinger Stra?e ist eine typische Zeilenbau-Siedlung aus den 1950er und 60er Jahren, heute leben vor allem ?ltere Menschen dort¡°, erl?utern die Forscherinnen. Die Eigent¨¹merin, die Stuttgarter Wohnungs- und St?dtebaugesellschaft (SWSG), will nun auf einer angrenzenden Gr¨¹nfl?che das Quartier erweitern. 360 neue Wohnungen werden in den kommenden Jahren dort gebaut. 750 neue Nachbarn kommen dazu.

?Das Problem vieler alter Siedlungen ist die Anonymit?t¡°, sagen die Forscherinnen. Oft kennen die Leute zwar ihren unmittelbaren Nachbarn, mit dem sie von Balkon zu Balkon ein Schw?tzchen halten oder sich im Sommer an der W?schespinne treffen, aber was die Leute in der n?chsten Stra?e so machen, davon wei? man oftmals nichts. Dies berichten Nachbarinnen und Nachbarn, die von den Forscherinnen interviewt werden.

Ein gro?es Pfund, mit dem der Stadtteil wuchern kann, als Basis f¨¹r eine lebendige Nachbarschaft, ist der Garten mit Gew?chsh?usern der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva). Der Garten geh?rt zum M?nnerwohnheim im Immanuel-Gr?zinger Haus (IGH), das von der eva getragen wird.

?Unser Experiment hat an einem Ort angesetzt, der als Treffpunkt der Nachbarschaft schon gut etabliert ist¡°, sagen die Forscherinnen.

M?nner des Wohnheims k¨¹mmern sich um die H¨¹hner, ziehen Gem¨¹se selbst und betreuen die Bienenv?lker. Einmal in der Woche ist der Garten f¨¹r alle offen. ?Unser Garten l?dt die Menschen aus der Nachbarschaft dazu ein, dass sie einfach einen Fu? ¨¹ber unsere Schwelle setzen, trotz mancher Ber¨¹hrungs?ngste mit den M?nnern, die Erfahrungen mit Obdachlosigkeit haben¡°, sagt Markus Vordermeier, der f¨¹r die Arbeitsanleitung der M?nner und den Garten zust?ndig ist. ?Die Nachbarn holen Gem¨¹se und stecken oft eine kleine Spende in unser K?ssle,¡°, so Vordermeier. Auch die Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹ler der nahegelegenen Schule sind regelm??ig zu Gast, vor allem, wenn K¨¹ken schl¨¹pfen. Au?erdem ?ffnet einmal in der Woche auch das Caf¨¦ TaS. Dort servieren die M?nner des Wohnheims eine Tasse Kaffee f¨¹r ein paar Cent.

Die B?ckinger Stra?e hat eine Sonderstellung im Stadtentwicklungsprozess bekommen. Denn sie ist eine Anw?rterin f¨¹r die Internationale Bauausstellung ¡¯27, die 2027 in Stuttgart er?ffnet. ?Wir finden es interessant, wie man mit diesen Siedlungen der Nachkriegszeit, die jetzt an vielen Orten saniert und modernisiert werden m¨¹ssen, auch baulich umgehen kann. Die Herausforderung wird es sein, die neue Nachbarschaft in einen bestehenden Stadtteil zu integrieren¡°, sagt Nina Riewe, Projektleiterin der IBA¡¯27. Um diese Fragen n?her zu betrachten, findet die IBA-Summer-School 2019 unter Mitwirkung des Studiengangs Stadtplanung der HFT statt.

Die ?Rotk?ppchen¡°

W?hrend der internationalen IBA Summer School 2019 entwickeln ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·de der Stadtplanung und Architektur gemeinsam mit den Forscherinnen vier Rotk?ppchen-Kioske, die sich mithilfe der an ihren F¨¹?en befestigten Rollen durchs Quartier schieben lassen. Innerhalb einer Woche wird vor Ort ein Konzept entwickelt, Skizzen angefertigt, ein Design erarbeitet und die vier Kioske in der Werkstatt und vor dem Caf¨¦ zusammengezimmert. Auch ein Interview-Leitfaden wird in diesem Zuge entwickelt, um die Nachbarn nach ihren Bed¨¹rfnissen zu fragen.

Der Info-Kiosk ist eine Art rollendes Schwarzes Brett f¨¹r Informationen ¨¹ber die Entwicklung des neuen Quartiers. Er bietet Service und Nachbarschaftshilfen unter dem Motto ?Suche¡° einen Hundesitter, biete ?Pflanzen gie?en¡°. Sp?ter wird noch ein Quartiersbriefkasten f¨¹r Anregungen, W¨¹nsche und Bef¨¹rchtungen montiert.

Der Garten-Kiosk bietet mit f¨¹nf Regalbrettern zur Ablage Erzeugnisse aus dem eva-Garten auch au?erhalb der ?ffnungszeiten an. Nach dem Prinzip des Food-Sharing kann sich hier jeder etwas mitnehmen, aber auch eigene Lebensmittel mitbringen und abgeben.

Der Spiele-Kiosk und der Sport-Kiosk k?nnen von den Nachbarn ¨¹berall im Quartier selbstst?ndig genutzt werden. Der Spiele-Kiosk ist ein aufklappbarer Tisch, in seinem Geh?use kann man auch Hocker und Brettspiele unterbringen. Der Sport-Kiosk birgt Badminton-Schl?ger, Diskus-Scheibe und andere Sportger?te.

Die Tests

Als der erste Test-Tag im August 2019 anbricht, ist der Himmel in der B?ckinger Stra?e strahlend blau. Auf einer vorab festgelegten Route ziehen die ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den mit geladenen G?sten durch das Quartier. Die Rotk?ppchen sind auf dem Weg an interessanten Stellen in der Nachbarschaft platziert und werden nach und nach eingesammelt. An jeder Station gibt es eine kleine Erkl?rung, es werden Brettspiele und Badminton gespielt. Von ihren Balkonen beobachten ?ltere Nachbarn interessiert das Treiben. Der Plan der Forscherinnen Aufmerksamkeit zu erregen, scheint aufzugehen.

Auch nach der IBA Summer School geht das Experiment weiter. Unter der Leitung von Prof. Dr. Christina Simon-Philipp bieten Carolin Lahode und Sarah Ann Sutter im Wintersemester 2019/2020 das Lehrforschungsprojekt Labor B?ckinger Stra?e erneut an der HFT an. Es ist ein transdisziplin?res Seminar des ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·studiengang Stadtplanung in Kooperation mit dem Studiengang Wirtschaftspsychologie unter der Leitung von Prof. Dr. Katrin Allmendinger und Sarah Lang.. Durch die verschiedenen Expertisen und Blickwinkel aus der Architektur, Stadtplanung und Wirtschaftspsychologie der Betreuerinnen und ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den wird der interdisziplin?re Ansatz zur Weiterentwicklung der Rotk?ppchen fortgef¨¹hrt.

Im Oktober und November zur kalten Jahreszeit testen die ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den nur den Info-Kiosk und den Garten-Kiosk. Sie schieben die Rotk?ppchen durchs Viertel und platzieren sie an verschiedenen Orten - am Caf¨¦ TaS, an der Auferstehungskirche, am Rotweg Ecke Roigheimer Stra?e. In Gespr?chen mit Passantinnen und Passanten, die sich an den Kiosken ereignen, stellen die ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den fest, dass es durchaus ein Interesse an mehr nachbarschaftlicher Vernetzung und Informationen zum neuen Quartier gibt.

Auch Markus Vordermeier und seine Mannen k¨¹mmern sich inzwischen um die Rotk?ppchen. Ein handwerklich geschickter Bewohner zimmert dem Garten-Kiosk eine Plexiglas-T¨¹r. Dieses Rotk?ppchen entwickelt sich in den gem¨¹se-armen Wintermonaten zu einer Tauschb?rse der Nachbarschaft f¨¹r B¨¹cher, CDs, Regenschirme und Kinderspielzeug.

Der Garten-Kiosk hatte einen Vorl?ufer ¨C einen alten Schubkarren, den die M?nner immer gef¨¹llt haben, wenn sie Gem¨¹se ¨¹brighatten.  ?Es hat eine ganz andere Wirkung, wenn dort ein sch?ner Holzschrank mit einem roten K?ppchen steht¡°, findet Markus Vordermeier.

Der eva-Mitarbeiter freut sich ¨¹ber das Engagement der ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den. ?Sie sind regelm??ig da. Dies schafft Vertrauen¡°, sagt er.

Auch in den Umfragen, die im Rahmen des Seminars mit verschiedenen Nachbarn gef¨¹hrt werden, wird deutlich, wie sehr Menschen im Stadtteil den Garten der eva sch?tzen. Eine Frau sagt, dass sie mit ihren Enkeln h?ufig vorbeikomme wegen der K¨¹ken. Sie w¨¹nscht sich, dass der Garten h?ufiger ge?ffnet haben soll. Auch andere Befragte f?nden es gut, wenn es insgesamt mehr ?ffentliche Pl?tze und Gr¨¹nr?ume im Viertel g?be.

Dass Gemeinschafts-G?rten ideale Treffpunkte sein k?nnen, zeigen Modell-Projekte an anderen Orten, wie zum Beispiel das Prinzessinnengarten Kollektiv in Berlin-Neuk?lln, das vor zehn Jahren entstand. Auf einer knapp 6000 Quadratmeter gro?en Fl?che pflanzen die Nachbarinnen und Nachbarn Hochbeete, organisieren Workshops, Lernk¨¹chen und eine Garten-Akademie. Doch solche Arten von Gemeinschaftsr?umen sind immer noch selten.

Partizipation im ?ffentlichen Raum

??lteren Siedlungen fehlt es oft an ?ffentlichen R?umen, in denen sich die Bewohnerschaft des Quartiers ungezwungen treffen kann, ohne Konsumzwang. Wir brauchen aber Freir?ume in den St?dten, das hei?t. freie R?ume f¨¹r Aufenthalt, Kommunikation und Interaktion¡°, sagt die HFT-Professorin und Architektin Prof. Christina Simon-Philipp, die Mentorin von Seiten der Stadtplanung im M4_LAB ist. ?Wenn heute neue Quartiere in Stuttgart geplant werden, spielt der Gedanke des gemeinsam genutzten, ?ffentlichen Raums, den B¨¹rgerinnen und B¨¹rger mitgestalten, eine viel gr??ere Rolle, als es fr¨¹her der Fall war¡°, so die HFT-Professorin (siehe auch Interview: Patrizipation im ?ffentlichen Raum). Dies sei nicht zuletzt der Verdienst von zivilgesellschaftlichen Initiativen wie den Stuttgarter ?Stadtl¨¹cken¡°, die sich in die Gestaltung ihrer Stadt einmischen und B¨¹rgerinnen und B¨¹rger zu einer aktiven Teilnahme bewegen wollen.

Auch Carolin Lahode und Sarah Ann Sutter engagieren sich privat bei den Stadtl¨¹cken mit dem Ziel, sich f¨¹r mehr gemeinschaftlichen Raum in der Stadt einzusetzen. Diesen Raum nennen die Wissenschaftlerinnen Urban Commons, Gemeing¨¹ter. ?Das k?nnen auch gemeinsam genutzte Orte wie zum Beispiel Streuobstwiesen sein, die man gemeinschaftlich pflegt, wo man ?pfel pfl¨¹ckt und dann Kuchenfeste in der Nachbarschaft veranstaltet. Wie die Nachbarinnen und Nachbarn solche Orte nutzen, ist offen, das entscheiden sie selbst. Charakteristisch ist jedoch, dass mehr soziale Interaktion unter den Menschen zustande kommt, wenn es solche Orte gibt¡°, sagen sie.

Mehr Ideen dazu, wie sich vor allem die Gemeinschaft in der B?ckinger Stra?e entwickeln kann und welchen Beitrag die Rotk?ppchen in diesem Zusammenhang leisten k?nnen, werden an einem im Rahmen des Seminars veranstalteten Nachbarschaftsabend zusammengetragen.

Nachbarschaftsabend

Bei diesem Nachbarschaftsabend im Dezember im Caf¨¦ TaS findet sich eine bunte Mischung von Wohnheimbewohnern, Menschen aus der Nachbarschaft und Anwohnerschaft Roter B¨¹rgerinnen und B¨¹rger ein, ein kleines Publikum, rund 15 Personen. Anregungen zu einem regelm??igen Nachbarschaftstreff, einem Kinder- und Familienquartier und nach Pl?tzen und Gr¨¹nr?umen im Quartier werden gesammelt. Die Besucherinnen und Besucher kleben Post-its an die gestalteten Themenw?nde und teilen so mit, was sie wichtig finden in einer guten Nachbarschaft: Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Spa?, Harmonie und respektvoller Umgang. Auch neue Netzwerke werden an diesem Abend gekn¨¹pft. Mit der Bezirksbeir?tin als neuer ehrenamtlicher Helferin im Caf¨¦ h?lt auch das Zuffka Projekt, ein Fahrrad-Taxi mit Personenanh?nger, Einzug in die B?ckinger Stra?e. Die Rikscha wird von ehrenamtlichen Fahrern betrieben und kutschiert ?ltere Menschen zum Einkaufen, zum Arzt oder zum Kaffeeklatsch.

Ausblick

Werden die vier Rotk?ppchen im Quartier bleiben? Solange es Menschen gibt, die sich darum k¨¹mmern, stehen die Chancen gut. ?Es stellt sich die Frage der Verstetigung, f¨¹r die es auch immer zust?ndige Personen geben muss¡° sagen die Forscherinnen.

Markus Vordermeier empfindet die Zusammenarbeit mit dem Seminarteam als sehr bereichernd. Durch die Arbeit der ±Ø²©ÓéÀÖ,±È²©ÓéÀÖÍøÖ·den sei auch das Selbstbewusstsein einiger M?nner gestiegen, sagt er. ?Es ist toll, dass es nun f¨¹r das, was wir mit dem Garten und den Nachbarn machen, ein fachliches Konzept gibt. Wir sehen die Kioske f¨¹r die Nachbarschaft auch als eine Art Geschenk an¡°, sagt er.

Auch IBA¡®27-Projektleiterin Nina Riewe betont, dass die Forschung wichtige Impulse gesetzt hat. ?Wir fanden den niedrigschwelligen Ansatz dieser interaktiven Elemente toll, die Rotk?ppchen zu bauen und damit in das Viertel zu gehen,¡° sagt sie. ?Sehr spannend finden wir es, dass sich das Projekt damit besch?ftigt hat, was die Nachbarschaft an den eher peripher gelegenen Orten wie Zuffenhausen-Rot braucht und damit auch soziale Aspekte behandelt, zum Beispiel wie man mit B¨¹rgerinnen und B¨¹rgern ins Gespr?ch kommt, die es ansonsten nicht gewohnt sind, sich zu beteiligen oder beteiligt zu werden¡°, sagt Riewe. Es gehe auch um viele ?ltere Menschen, die in Rot oftmals allein leben. Wie kann man sie in ein aktives Quartiersleben einbinden?

Was sich Carolin Lahode, Sarah Ann Sutter und Sarah Lang f¨¹r die weitere Entwicklung des Quartiers in der B?ckinger Stra?e w¨¹nschen, ist eine Nachbarschaft, die auch M?glichkeiten hat, sich aktiv zu beteiligen. ?Die Erfahrung zeigt, dass zu den B¨¹rgerbeteiligungen oft dieselben Personen ins Rathaus kommen, um sich hier mehr Gr¨¹n oder dort einen Baum zu w¨¹nschen und das war es dann. Das ist aber nach unserem Verst?ndnis zu wenig.¡° Es braucht innovative Beteiligungsformate, um die B¨¹rgerinnen und B¨¹rger zu aktivieren und dadurch einzubeziehen¡°, sagen sie. Die experimentelle Entwicklung solcher partizipativen Formate wird sicherlich Teil eines der n?chsten Labore f¨¹r experimentellen Stadtraum sein.

Ver?ffentlichungsdatum: 18. November 2020
Von Susanne Rytina (susanne.rytina@hft-stuttgart.de)